Rede der Präsidentin: 70. Jahrestag des CERN
Generaldirektorin Gianotti,
liebe Fabiola,
königliche Hoheiten,
Exzellenzen,
liebe Amtskolleginnen und -kollegen,
sehr geehrte Gäste,
es ist mir eine große Ehre, gemeinsam mit Ihnen und einigen der klügsten Köpfe Europas und, ja, der Welt das 70-jährige Bestehen des CERN zu feiern. Heute ist das CERN ein Magnet für Spitzenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus allen Kontinenten. Aber wie wir gerade gehört haben, gab es eine Zeit, in der Europa überhaupt kein attraktiver Ort für Wissenschaft war. Vor 70 Jahren waren viele unserer brillantesten Forscher aus Europa geflohen. Andere hatten ihre Recherchen auf Eis gelegt. Es war eine Handvoll europäischer Physiker, die das Blatt wendeten und die Wissenschaft nach Europa zurückbrachten. So wurde das CERN geschaffen, und seine Gründer wären, wie Du schon hervorgehoben hast, liebe Fabiola, heute sehr stolz auf das, was sich seither entwickelt hat. Heute begrüßen Sie jährlich 17 000 Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler. Eigentlich möchte jeder Physiker der Welt am CERN arbeiten. Sie haben Europa nicht nur wieder auf die Weltkarte zurückgeholt, Sie wurden auf dem Gebiet der Teilchenphysik sogar zum Mittelpunkt der Welt.
Es gibt so viel, was wir aus Ihrer Geschichte lernen können. Genau wie vor 70 Jahren leben wir in Zeiten zunehmender geopolitischer Konkurrenz. Wir befinden uns mitten in einem globalen Wettlauf um die Technologien, die die Welt von morgen prägen werden, von Clean Tech bis Quantentechnologie, von KI bis Fusion. Und obwohl in Europa mehr Forscher leben als in den Vereinigten Staaten und China, verlieren wir in vielen Bereichen an Boden. So hat sich beispielsweise unser globaler Anteil an den Patentanmeldungen in den letzten zwei Jahrzehnten halbiert – von 30 % auf 15 %. Es ist wieder an der Zeit, das Blatt zu wenden, so wie es die CERN-Gründer vor 70 Jahren taten.
Heute möchte ich drei Lehren aus der Geschichte des CERN ziehen. Die erste Lehre ist, dass Größenvorteile entscheidend sind. Kein europäisches Land allein hätte den größten Teilchenbeschleuniger der Welt bauen können. Das CERN ist zu einem globalen Zentrum geworden, weil es Europa zusammengebracht hat. Und das ist heute noch wichtiger als früher. Wir konkurrieren mit Giganten. China plant einen 100 Kilometer langen Beschleuniger, um die weltweit führende Stellung des CERN anzugreifen. Daher bin ich stolz darauf, dass wir die Machbarkeitsstudie für den Future Circular Collider des CERN finanziert haben. Dieser könnte den wissenschaftlichen Vorsprung Europas bewahren und die Grenzen des menschlichen Wissens noch stärker dehnen. Da der weltweite Wissenschaftswettlauf gerade in vollem Gange ist, möchte ich, dass Europa mehr Tempo vorlegt.
Dabei ist die europäische Einheit unser größtes Kapital. Horizont Europa ist das größte Forschungsinvestitionsprogramm der Welt. Sein Kronjuwel ist der Europäische Forschungsrat: die von ihm finanziert wissenschaftliche Forschung hatte bereits 14 Nobelpreise zur Folge. Da müssen wir investieren. Deshalb möchte ich die Forschungsausgaben in unserem nächsten Haushalt erhöhen – genau wie Du, liebe Fabiola, es forderst. Aber ich möchte auch erreichen, dass Sie leichter Zugang zu dieser Finanzierung erhalten. Wir müssen unsere Bemühungen auf bahnbrechende Innovationen konzentrieren, wie im Draghi-Bericht vorgeschlagen. Unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen in der Lage sein, die Ressourcen , die sie benötigen, auch zu finden – hier in Europa. Das ist ein absolutes Muss, und genau darauf sollten wir uns konzentrieren.
Die zweite Lehre, die das CERN für uns bereithält, ist die, dass man im Wettbewerb desto besser dasteht, je mehr zusammengearbeitet wird. Alle Ihre Entdeckungen sind Open Access. Sie teilen sie stolz mit einem riesigen Netz von Universitäten, Wirtschaftszweigen und Start-ups. In diesem Geist werden wir ein Gesetz über den Europäischen Forschungsraum vorschlagen. Alle europäischen Forscherinnen und Forscher sollten Zugang zu unserer erstklassigen Forschungsinfrastruktur, etwa zu Supercomputern, haben. Es muss einfacher werden, Fachwissen und Rechenleistung zu bündeln – ohne künstliche Grenzen oder Barrieren. Die europäische Wirtschaft gedeiht dank des freien Waren-, Talent- und Kapitalverkehrs in unserem Binnenmarkt. Es ist an der Zeit, endlich die Freizügigkeit von Wissen und Wissenschaft in ganz Europa zu ermöglichen.
Und das führt mich zur dritten Lehre. Ihre Kernaufgabe am CERN war schon immer die Grundlagenforschung. Aber während Ihrer Geschichte haben Ihre Forschungen zudem quasi als Nebeneffekt unzählige Errungenschaften für unsere Gesellschaft und Wirtschaft hervorgebracht. Dank des CERN haben wir das World Wide Web – soviel ich weiß, ist Tim Berners-Lee heute hier unter uns. Noch einmal meinen herzlichsten Glückwunsch. Weitere Beispiele: Touchscreens. Neue Ansätze zur Krebsbekämpfung. Sie arbeiten ständig mit der europäischen Industrie zusammen, beispielsweise um emissionsarme Flugzeuge zu bauen oder neue Lösungen für den Transport von flüssigem Wasserstoff zu entwickeln. Das CERN ist der lebende Beweis dafür, dass Wissenschaft Innovation und Innovation wiederum die Wettbewerbsfähigkeit fördert. Wir brauchen mehr von diesen Partnerschaften zwischen Forschung und Wirtschaft. Mehr Ideen, die den Weg aus dem Labor in die Fabrik finden. Und dies wird ein wichtiger Pfeiler unseres neuen europäischen Innovationsgesetzes sein. Wir müssen Forschung und Innovation in den Mittelpunkt der europäischen Wirtschaft stellen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
als das CERN gegründet wurde, schien es fast unmöglich, Wissenschaft von Weltrang auf einen verwüsteten Kontinent zurückzubringen. Als Sie einen 27 Kilometer langen unterirdischen Tunnel entwarfen, in dem Teilchen fast mit Lichtgeschwindigkeit aufeinanderprallen würden, dachten viele, Sie träumten. Und als Sie anfingen, nach dem Higgs-Boson zu suchen, schienen die Erfolgschancen unglaublich gering. Aber Sie haben wieder und wieder bewiesen, dass die Skeptiker falsch lagen. Ihre Geschichte ist eine von Fortschritten gegen alle Widrigkeiten, genau wie die Geschichte Europas. Das CERN wurde ins Leben gerufen, um zu entdecken. Und ich kann es kaum erwarten zu sehen, was Sie als nächstes entdecken werden, denn ich bin mir sicher, dass das CERN die Welt weiter verändern wird.
Bon anniversaire, happy birthday, und es lebe das CERN.
Media
European Commission President Ursula von der LEYEN @ the Official Ceremony for CERN’s 70th anniversary, Geneva
2024-10-01Zařazeno | út 01.10.2024 17:10:00 |
---|---|
Zdroj | Evropská komise de |
Originál | ec.europa.eu/commission/presscorner/api/documents?reference=SPEECH/24/4982&language=de |
lang | de |
guid | /SPEECH/24/4982/ |